«Delta»-Mutation
Warum ausgerechnet Lissabon und Moskau zu den neuen Corona-Hotspots in Europa geworden sind
«Delta»-Mutation
Während fast überall auf dem Kontinent die Coronazahlen sinken, steigen sie in der russischen und in der portugiesischen Hauptstadt dramatisch. Eine Gemeinsamkeit weisen beide Metropolen auf.
Inna Hartwich, Moskau und Ralph Schulze, Madrid
Kontrollen an den Ausfallstrassen, Beschränkungen der Bewegungsfreiheit – Portugals Hauptstadt Lissabon muss wegen der Ausbreitung der Delta-Variante des Coronavirus erneut in den Lockdown. Der Grossraum Lissabon wird wieder abgeriegelt, aber zunächst nur von Freitagnachmittag bis Montagmorgen – um den Ausflugsverkehr zu bremsen. Die Sperrung begann am vergangenen Wochenende. Der Wochenend-Shutdown Lissabons soll so lange beibehalten werden, bis sich die Lage wieder bessert.
Seit April hatte Portugal eine der niedrigsten Infektionszahlen Europas. Nun provoziert die zuerst in Indien entdeckte Delta-Mutante einen Rückfall. Die 7-Tage-Inzidenz in der Hauptstadt kletterte mittlerweile auf über 180 neue Ansteckungen pro 100'000 Bewohner – Tendenz weiter steigend.
An der Algarve steigen die Infektionsfälle ebenfalls. Aus der Region wurde eine Wocheninzidenz von zuletzt mehr als 110 neuen Fällen pro 100'000 Einwohner gemeldet. Landesweit kletterte die wöchentliche Fallhäufigkeit auf 75 – das ist derzeit die höchste Infektionsrate in der EU.
Mutante für mehr als die Hälfte der Fälle verantwortlich
Die hochansteckende Delta-Mutation mache inzwischen mehr als 60 Prozent aller Coronafälle aus, teilten Portugals Gesundheitsbehörden mit. Der Virologe Pedro Simas warnte, dass Delta ähnlich wie zuvor die Alpha-Mutation (britische Variante) bald einen Anteil von 90 Prozent erreichen könnte.
Wegen des neuen Ausbruchs wurde in Lissabon zudem die Lockerung der Beschränkungen gestoppt. Restaurants und Bars durften nun nicht ihre abendlichen Öffnungszeiten bis nach Mitternacht ausweiten, um 22.30 Uhr muss dicht gemacht werden. Zudem ist Homeoffice wieder zur Pflicht geworden. Die Sperrung Lissabons könnte erst der Anfang neuer Restriktionen der Bewegungsfreiheit in Portugal sein.
Ausländische Touristen können derzeit noch über den Lissaboner Flughafen ein- und ausreisen. Westliche Diplomaten raten jedoch von einem Ferienaufenthalt ab und empfehlen, die Stadt in der momentanen Situation nur aus wirklich dringlichen Gründen zu besuchen.
Touristen sollen die Variante eingeschleppt haben
Möglicherweise ist Delta aus Grossbritannien, wo diese Variante bereits seit Wochen vorherrschend ist, von Touristen eingeschleppt worden. Die meisten ausländischen Touristen Portugals kommen traditionell aus dem Vereinigten Königreich. Portugal hat bisher nicht wie etwa die Schweiz eine Quarantänepflicht für Einreisende aus Grossbritannien verhängt. Auch Reisende aus Indien trugen nach Angaben der portugiesischen Behörden zur Verbreitung bei.
Virenforscher Simas bezweifelt, dass sich die Ausbreitung der neuen Virusvariante mit neuen Beschränkungen aufhalten lässt. Der beste Schutz sei die laufende Impfkampagne – etwa 25 Prozent der Portugiesen haben bisher den kompletten Impfschutz.
Auch in Moskau harzt es bei der Impfkampagne
Der Impfschutz ist auch im zweiten europäischen Hotspot, in Moskau, ein Problem. Impfen? «Nein, ich warte ab», sagen die Russen häufig. Oder: «Ich schaue mir erst an, wie sich die Lage entwickelt» und «Ich ernähre mich gesund, dieses Virus wird mich schon nicht treffen». Die Lage aber entwickelt sich schlecht in Russland. Innerhalb von nur zwei Wochen hatten sich die Fallzahlen der mit Corona Infizierten zum Teil verdreifacht. In Moskau erreichten die Zahlen zum Wochenende den Rekord von mehr als 9000.
Für die Führung kommt die Entwicklung überraschend. Monatelang gab sich das Land als die Insel der Glückseligen. Ein trügerisches Gefühl. Einschränkungen schien es nur woanders auf der Welt zu geben. Russland präsentierte sich stolz auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg, feiert die Fussball-EM in Stadien und Fan-Zonen, die Restaurants und Bars sind voll, in den Parks sitzen bei einer Hitze von mehr als 30 Grad die Menschen dicht an dicht an den Flussufern und auf den Bänken. Die Masken – obwohl Pflicht – hängen oft nur unterm Kinn. Die hohe Übersterblichkeit spielt offiziell keine Rolle.
Viele Russen trauen der Regierung nicht
Russland habe die Lage bestens im Griff, hiess es lange. Schliesslich habe es mit Sputnik V das erste weltweit registrierte Vakzin. «Der sicherste und wirksamste Impfstoff», wie der russische Präsident Wladimir Putin stets betont. Nur: Viele Russen misstrauen dem Stoff wie sie auch der Regierung misstrauen.
Die Impfbereitschaft war von Beginn an gering, obwohl gerade in Moskau nahezu an jeder Ecke – in Polikliniken, in Einkaufszentren, in Parks – Impfstationen aufmachten. Mittlerweile hat Russland mit Sputnik V, Sputnik light, EpiVacCorona und CoviVac vier Vakzine zugelassen. Die Angst vor gefährlichen Nebeneffekten ist allerdings weit verbreitet. Bis heute sind etwa 10 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. In der Schweiz sind es rund 30 Prozent.
Jetzt setzt Russland auf Impfzwang
Über Mutationen des Virus sprach lange auf offizieller Ebene niemand. Bis der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin in der vergangenen Woche erklärte, dass fast 90 Prozent der Erkrankten mit der Delta-Variante infiziert seien, die in Russland immer noch «indischer Stamm» genannt wird. Sollte die Entwicklung so weitergehen, seien in der Hauptstadt in zwei Wochen alle Krankenbetten belegt, fügte er hinzu. Vor den Spitälern stauen sich mittlerweile die Krankenwagen.
Wie so oft im Land setzen die Machthaber nun die Vorschlaghammer-Methode ein, nachdem sie sich lange Zeit gelassen gaben. Arbeitgeber sollen dafür sorgen, dass bis zum 15. Juli 60 Prozent der Belegschaft zumindest erstgeimpft sind. Weigern sich die Arbeitnehmer, können sie mit der Entlassung rechnen. Geplante Spitalaufenthalte funktionieren nur noch mit einer Impfung. In Cafés und Restaurants sollen bald nur noch Geimpfte reingelassen werden. Schon bilden sich Schlangen vor den Impfstationen, Termine in den Polikliniken sind offenbar auf Wochen hinaus ausgebucht. Der Zwang und die Angst vor Jobverlust treiben die Menschen an die Nadel.
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